MS bei jungen Erwachsenen - Gebremster Start ins eigene Leben?

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Seit vier Semestern studiert Kathie Pharmazie und die ersten Prüfungen stehen an. Immer häufiger sieht die 24-Jährige ihre Umwelt verschwommen und sie hat das Gefühl, wie durch Nebel zu sehen. Liegt das am vielen Lernen oder ist es Prüfungsangst? Als Kathies rechter Arm sich plötzlich taub anfühlt und sie Probleme bekommt, Dinge zu greifen, sucht sie ihren Arzt auf. Nach einer Überweisung zum Neurologen ist die Diagnose schnell klar: Multiple Sklerose.

Im ersten Moment ist das für Kathie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie ist gerade erst in ihre erste eigene Wohnung gezogen und hat mit ihrem Freund Jan schon Pläne geschmiedet. Sie wollen irgendwann heiraten und gemeinsam Kinder haben. Außerdem wollen sie ihr Familienleben und ihre berufliche Karriere unter einen Hut bringen. Geht das mit MS alles noch?

Gebremster Start ins Leben

In Deutschland werden jedes Jahr rund 15.000 Menschen mit der Tatsache konfrontiert, an einer Multiplen Sklerose (MS) zu leiden. Meist wird die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr diagnostiziert,1 zu einer Zeit also, in der das Leben an Fahrt aufnimmt und in der die Familienplanung und/oder die berufliche Karriere im Fokus stehen. „Zu erfahren, an einer chronischen, nicht heilbaren Krankheit zu leiden, wird vor allem von jungen Menschen wie eine Art Schock erlebt“, berichtet Dr. Sven Ehrlich, Neurologe am Fachkrankenhaus Hubertusburg Wermsdorf. „Die MS wirft gerade in diesem Lebensalter viele Fragen auf und verunsichert die Betroffenen meist enorm“, schildert er seine Erfahrungen im Praxisalltag.

Wie wird mein Leben weitergehen? Werde ich meine Ziele und Lebensträume realisieren können? Wie stark wird die MS meinen Lebensalltag und meine Lebensziele beeinträchtigen? Bei den anstehenden Fragen geht es laut Dr. Ehrlich meist um die Zukunftsplanung, um die Berufswahl, die Sexualität und das Leben in einer Partnerschaft, um Fragen des Kinderwunschs, aber auch um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, um sportliche Aktivitäten und um Hobbys wie etwa das Reisen. Ein Gefühl der Verunsicherung bis hin zur Zukunftsangst beherrscht dann oft das Denken, so Dr. Ehrlich.

Pärchen auf dem Sofa kuschelnd.

Die Lebensträume trotz MS realisieren

„Es ist wichtig, dass die Betroffenen sich umfassend über die MS informieren. Sie werden feststellen, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen mit MS dank der modernen Behandlungsmöglichkeiten ein weitgehend normales Leben führen kann“, sagt Ehrlich. Vor allem in den vergangenen Jahren hat es enorme Fortschritte bei der Behandlung gegeben. Anders als früher sind Injektionen nicht mehr die einzige Therapiemöglichkeit, die meisten Medikamente können als Tablette eingenommen werden und zum Teil ist sogar „einmal täglich“ ausreichend.

Durch die medikamentöse Therapie ist heutzutage in aller Regel eine gute Krankheitskontrolle zu erwirken. Mit anderen Worten: Nach dem ersten akuten Schub können sich die entzündlichen Herde im Gehirn und im Knochenmark verkleinern und parallel dazu bilden sich auch die Krankheitssymptome zurück – bei Kathie die Sehstörungen und die Taubheitsgefühle in den Armen.1 „Von wenigen Ausnahmen abgesehen können die privaten und beruflichen Träume und Pläne der jungen Menschen durchaus trotz der MS realisiert werden“, erläutert der Neurologe.

Berufswahl vorausschauend planen

Denn sehr oft ist die Erkrankung nach dem Abklingen des ersten Schubs stabil und die Betroffenen können ihr Leben wie gewohnt fortsetzen. Immerhin sind nach einer Krankheitsdauer von 25 Jahren noch rund 30 Prozent der Patient*innen arbeitsfähig.2

Wird die MS früh genug erkannt, so kann sie bei der Berufswahl berücksichtigt werden. Prinzipiell können Menschen mit MS laut Dr. Ehrlich alle Berufe ausüben. Doch sollte man überlegt vorgehen und arbeiten in der Höhe (z. B. als Dachdecker*in) gegebenenfalls vermeiden, da im weiteren Verlauf motorische Probleme und Gleichgewichtsstörungen auftreten können. Es ist deshalb vernünftiger, einen Berufsweg einzuschlagen, bei dem eine gewisse Rücksichtnahme auf die MS möglich ist. So können zum Beispiel Phasen im Verlauf der Erkrankung auftreten, in denen die Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist und die Betroffenen unter einer ungewohnten Müdigkeit und Erschöpfung, der sogenannten Fatigue, leiden. Dann ist es gut, einen Beruf gewählt zu haben, bei dem sich bei Bedarf auch kleine Pausen in den Arbeitsalltag integrieren lassen.

Apropos

Junge Erwachsene mit Kinderwunsch sorgen sich oftmals, dass auch ihre Kinder eine MS entwickeln könnten. Das Risiko ist gering, wenn nur einer der beiden Partner an MS erkrankt ist. Es steigt allerdings auf drei bis fünf Prozent (gesunde Bevölkerung: ein Prozent), wenn beide Elternteile eine MS haben.3

                    

Sportlich aktiv bleiben

Ähnlich sieht es beim Sport aus: Es gibt keinen Grund, mit MS auf Sport zu verzichten. Allerdings sollten hier die körperlichen Grenzen ernst genommen werden. Bouldern und Klettern können beispielsweise nicht nur die Körpermuskulatur trainieren, sondern auch das Körpergefühl, den Gleichgewichtssinn sowie die Koordinationsfähigkeit und das Selbstwertgefühl – Fähigkeiten also, die bei der Krankheitsbewältigung durchaus hilfreich sind. Es ist allerdings auf eine gute Sicherung bei der Ausübung des Sports zu achten und auch darauf, die eigenen Leistungsgrenzen zu erkennen und zu respektieren.

Generell ist bei sehr verletzungsträchtigen Sportarten bei MS besondere Vorsicht geboten. Gänzlich abgeraten wird den Betroffenen von solchen Sportarten jedoch meist nicht, wie das Beispiel des Reitens zeigt (siehe auch Beitrag zum Therapeutischen Reiten Seite 23). Als ideal bei der MS empfehlen Experten*innen eine Mischung aus nicht zu intensivem Ausdauer- und Krafttraining.4

Sexualität und Partnerschaft

Ein oftmals tabuisiertes Problem bei der MS ist die Sexualität. Doch im Zuge der Erkrankung können Sensibilitätsstörungen im Intimbereich auftreten, die das sexuelle Erleben beeinträchtigen können. In aller Regel hilft ein offenes Gespräch mit dem Partner oder der Partnerin. Nur so können die Gründe für die psychische Belastung und gegebenenfalls ein Zurückziehen des*der Partner*in verstanden werden. Und nur dadurch kann auch versucht werden, das Sexualleben so zu gestalten, dass es Mann und Frau wieder Spaß macht.

Letztlich verbunden mit dem Thema Sexualität ist oftmals die Sorge, der gesunde Partner oder die Partnerin könne eine Trennung anstreben, da er oder sie sein bzw. ihr Leben langfristig nicht mit einem chronisch kranken Menschen verbringen möchte. Auch gegen solche Trennungsängste hilft am besten ein offenes Wort mit dem Partner oder der Partnerin.

Die überwiegende Mehr­zahl der Menschen mit MS kann ein weitgehend normales Leben führen

Ein zentrales Thema ist bei jungen Erwachsenen häufig die Familienplanung. In puncto MS gilt, dass die Paare nicht auf Kinder verzichten müssen. Denn eine Schwangerschaft scheint keine wesentlichen Auswirkungen auf den Verlauf der Erkrankung zu haben und im zweiten und dritten Trimester sogar eine gewisse Schutzwirkung vor akuten Schüben zu bieten. Diese können jedoch auch während der Schwangerschaft behandelt und bei Bedarf können manche Medikamente auch während der Schwangerschaft fortgeführt werden.

Nach der Entbindung bzw. nach dem Abstillen steigt das Schubrisiko jedoch wieder an. Mit der behandelnden Neurologin oder dem Neurologen sollte der Wiederbeginn der Medikamenteneinnahme genau geplant werden.5

Das offene Gespräch suchen

Von einigen wenigen Ausnahmen bei der Berufswahl und bei sportlichen Aktivitäten abgesehen, ist für viele junge Erwachsene mit MS ein selbstbestimmtes Leben ohne große Beeinträchtigungen möglich: „Wichtig ist, dass die Betroffenen durch eine Neurologin oder einen Neurologen mit MS-Erfahrung betreut werden, anstehende Probleme offen besprochen und auf die Sorgen und Ängste der Patient*innen eingegangen wird. Ein langfristiges, beidseitiges Vertrauensverhältnis ist auch die Basis für eine dauerhafte und regelmäßige Medikamenteneinnahme“, erläutert Dr. Ehrlich. So lassen sich zum Beispiel Fragen bezüglich geplanter Reisen rasch klären.

Kommt es zu Defiziten bei der Bewältigung des Alltagsgeschehens oder der beruflichen Aufgaben, so können der Arzt/die Ärztin wie auch die MS-Nurse zu Hilfsmitteln informieren. Sie können oft auch bei deren Besorgung helfen, damit die Probleme im Alltag gut kompensiert werden. Im Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt wird meist auch recht schnell klar, ob es sich bei den Auffälligkeiten möglicherweise um einen beginnenden erneuten Schub handelt und die Therapie angepasst werden muss.

In diesem Zusammenhang betont Dr. Ehrlich, dass es von großer Bedeutung ist, die verordneten Medikamente regelmäßig einzunehmen. Nur dann können sie ihre Wirkung entfalten, die MS unter Kontrolle halten und dafür sorgen, dass Lebensträume nicht zerplatzen, sondern realisiert werden können.

 

Dr. Sven Ehrlich

ZUR PERSON:
Dr. Sven Ehrlich ist Neurologe und leitender Oberarzt am FKH Hubertusburg Wermsdorf, Klinik für Neurologie und neurologische Intensivmedizin.

Quellen:

1 https://www.dmsg.de/multiple-sklerose/was-ist-ms, letzter Zugriff: 21.04.2023;
2 https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/erkrankungen/multiple-sklerose-ms/prognose-/-verlauf/, letzter Zugriff: 21.04.2023;
3 Vukusic S et al. Pregnancy and multiple sclerosis (the PRIMS study): clinical predictors of post-partum relapse. Brain 2004; 127(Pt 6): 1353–60;
4 https://www. dmsg.de/multiple-sklerose/ms-und-sport, letzter Zugriff: 31.03.2023;
5 https:// www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/erkrankungen/multiple-sklerose-ms/fragen-im-alltag/, letzter Zugriff: 31.03.2023.

MAT-DE-2301490-2.0-05/2023